Haareis – eine seltene Schönheit

Haareis ist ein seltenes Naturphänomen, welches noch nicht restlos aufgeklärt ist. Es tritt unter bestimmten Bedingungen auf totem Laubholz bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt auf.

Zum besseren Verständnis vereinfacht

Haareis

Wenn von Herbst bis Frühjahr besondere Bedingungen zusammentreffen, kann sich auf Totholz ein Eisgespinst aus feinen Eishaaren bilden. Die einzelnen Haare sind sehr dünn (rd. 1/10 mm) und können bis zu 10 cm lang werden. Manchmal sind die Haar-„Büschel“ gelockt, gewellt oder gescheitelt, was vermutlich durch Windströmungen verursacht wird. Hin und wieder sind Zonierungen erkennbar. Vereinzelt sind Insekten, z. B. Springschwänze, auf Haareis anzutreffen.

Haareis März 2015
Haareis März 2015

Das Besondere an Haareis ist, dass sein Wachstum von der Basis her erfolgt. Normale Eiszapfen dagegen wachsen dagegen durch Eisablagerungen an der Spitze. Zudem frieren die einzelnen Haare mit der Zeit nicht zusammen, sondern bleiben als getrennte Objekte erhalten.

Auf manchen Astbruchstücken kann über mehrere Jahre Haareisbildung beobachtet werden.

Um die Erforschung des Phänomens hat sich besonders Gerhart Wagner bemüht (s. u.), der erste systematische Versuche zur Haareisbildung durchführte.

1. Verschiedene Faktoren müssen zusammentreffen

Damit sich Haareis bilden kann, müssen die folgenden Faktoren zusammentreffen:

  • Laubholz in einem bestimmten Verrottungszustand. Häufig wird Haareis auf Buchenholz gefunden, tritt aber auch auf anderen Laubhölzern, wie Ahorn und Erle, auf,
  • Befall des Holzes mit dem Pilz Exidiopsis effusa (E. e.),
  • Durchfeuchtung des Totholzes und sehr feuchte Umgebung, z. B. nach langanhaltendem Regen, so dass eine relativ hohe Luftfeuchte (gesättigte Atmosphäre) herrscht,
  • Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt (0 – -4 °C),
  • schneefrei,
  • windstill.

Die Entstehung von Haareis ist ein komplexer Vorgang, bei dem physikalische und biologische Faktoren zusammenwirken. Die Details sind jedoch noch nicht restlos erforscht.

Haareis November 2020 (1)
Haareis November 2020 (1)

2. Ungefrorenes Wasser im Holz

Im Holz verlaufen in Längsrichtung feine Kapillare, die die Versorgung mit Wasser und Nährstoffen von der Wurzel bis zur Spitze gewährleisten. Quer zu diesen sind kapillare Mark- und Holzstrahlen ausgebildet. Alle Kapillaren dienen als Speicher- und Transportsystem.

Querschnitt Holz - schwammige Struktur: Holz ist von zahlreichen Kapillaren durchzogen, die Nährstoffe, Wasser und Abfallprodukte enthalten
Holz ist von zahlreichen Kapillaren durchzogen, die Nährstoffe, Wasser und Abfallprodukte enthalten

In den Kapillaren ist die Oberfläche im Verhältnis zum Volumen relativ groß. Dadurch wirken starke Oberflächenkräfte (Adsorptionskräfte), die den Gefrierpunkt von Wasser herabsetzen. Die Gefrierpunktabsenkung ist umso größer, je enger die Kapillaren sind (Radius-Gefrierpunkt-Beziehung (RGB)). Im Wasser gelöste organische Substanzen reduzieren vermutlich den Gefrierpunkt weiter.

Die Kapillaren von Nadelhölzern sind enger als die von Laubhölzern. Würde es sich bei Haareis um einen rein physikalischen Vorgang handeln, müsste Haareis auch auf Nadelholz zu finden sein.

3. Austretendes Wasser gefriert

Tritt Wasser aus dem Totholz aus, entfällt die Gefrierpunktreduzierung durch die Kapillarstruktur und das Wasser gefriert.

Zwischen dem Eis und dem Wasser in den Kapillaren entsteht ein thermodynamisches Ungleichgewicht, das bewirkt das Wasser aus den Poren getrieben wird (Eispumpe). Die Eisbildung beschleunigt sich und das Holz trocknet aus. Ist das Kapillarwasser aufgebraucht, stoppt die Eisbildung.

Beim Gefrieren wird Energie frei, die in Form von Wärme an die Umgebung abgegeben wird. Im Holz ist nach Beginn der Eisbildung eine Temperaturerhöhung von ca. 1 – 3 °C feststellbar. Die Temperatur im Holz sinkt wieder, wenn aufgrund von Wassermangel kein Eis mehr gebildet werden kann.

Auf Totholz ohne Pilze bildet sich eine Eisschicht, aber kein Haareis. Es müssen also weitere Faktoren wirksam sein.

Einschub: Wärmefreisetzung beim Frieren

Die Moleküle in einer Substanz bewegen sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit. Der Aggregatzustand der Substanz (gasförmig, flüssig, fest) ist abhängig von der Bewegungsgeschwindigkeit. Aggregatzustand und Bewegungsgeschwindigkeit werden u. a. von der Temperatur bestimmt. Je höher die Temperatur, desto schneller bewegen sich die Moleküle. Bei einem Gas (hohe Temperatur) bewegen sich die Moleküle sehr schnell, bei einer Flüssigkeit (mittlere Temperatur) mäßig schnell und in einem Festkörper (niedrige Temperatur) fast gar nicht. Die Temperaturbereiche der Aggregatzustände sind abhängig von der Substanz. Für Wasser gilt z. B. vereinfacht: < 0 °C Feststoff (Eis), 0 – 100 °C Flüssigkeit (Wasser), > 100 °C Gas (Wasserdampf).

Wird eine Bewegung verlangsamt, wird Bewegungsenergie frei. Dies erfolgt beim Gefrieren in Form von Wärme, die an die Umgebung abgegeben wird. Die gleiche Energie, die beim Frieren frei wird, muss beim Auftauen wieder zugeführt werden.

4. Pilzaktivität für Haarform verantwortlich

In Tothölzern, die Haareis ausbilden, wurde der Pilz Exidiopsis effusa (E.e.) gefunden, teilweise auch weitere Pilze. E.e. ist ein auf Laubhölzer wachsender Pilz, der noch im Winter aktiv ist.

Der Pilz baut im toten Holz organische Substanzen ab und scheidet als Abfallprodukte verschiedene organische Substanzen, Wasser und CO2 aus. Dieses Gemisch dringt, vermutlich getragen von CO2, aus den Kapillaren in die Umgebung. Man nimmt an, dass die enthaltenen (organischen) Substanzen als Kristallisationskeime wirken und in das Eis eingeschlossen werden.

Die Eishaare bilden sich in Verlängerung der Holzstrahlen, so dass die Dicke des einzelnen „Haares“ dem Querschnitt des jeweiligen Holzstrahls entspricht. Tritt weiteres Wassergemisch aus (Eispumpe) und gefriert, wird das bereits gebildete Eis nach oben geschoben: Das Haareis wächst von unten her (basiskryogen), die Zone der Eisbildung bleibt an der Oberfläche des Holzes.

Durch die Bioaktivität des Pilzes findet keine nennenswerte Erwärmung im Holz statt. Auch die Menge und die Eisbildungsrate sind unabhängig vom Pilz. Das Vorhandensein des Pilzes ist jedoch entscheidend für die Ausformung der dünnen Haareis-Struktur.

Haareis Nahaufnahme (März 2015)
Haareis Nahaufnahme (März 2015)

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5. Stabilität des Haareises durch eingeschlossene Substanzen

Normalerweise würden die einzelnen Haare auf Dauer zusammenfrieren. Man nimmt an, dass die im Eis enthaltenen organischen Substanzen (die Kristallisationskeime) ein Verschmelzen der Haare verhindern.

Beim Auftauen von Haareis, welches beidseitig Oberflächenkontakt hat (z. B. zwischen Totholz und Rinde), bleibt ein feiner Faden bestehen, an dem sich Tauwassertropfen sammeln. Vermutlich werden die Fäden aus den organischen Substanzen gebildet, die als Kristallisationskeime dienen. Das Schmelzwasser von Haareis ist leicht bräunlich und enthält organische Verbindungen. Nachgewiesen wurden Fulvinverbindungen, die auf zersetztes Lignin und Tannin hindeuten. Speziell verkettetes Lignosulfonat könnte als Kristallisationskeim wirken und für die Fadenbildung verantwortlich sein.

Haareis November 2020 (2)
Haareis November 2020 (2)

Stängeleis

Stängeleis wächst ebenfalls von der Basis her. In der Regel tritt das Eis hierbei auf Böden auf, die mit Kapillarwasser gesättigt sind.

Gebogene Eissäule aus einem gefrorenen Metallrohr
Gebogene Eissäule aus einem gefrorenen Metallrohr

Raureif, Reif, Raueis, gefrorener Tau

Mit diesen Begriffen werden verschiedene Eisarten bezeichnet, die sich bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bei hoher Luftfeuchte, Nebel oder Niederschlag bilden. Die Feuchtigkeit stammt hierbei aus der Umgebung und schlägt sich als Eis auf Oberflächen nieder.

Die Dicke der Eisnadeln unterscheidet sich deutlich von Haareis.

Raureif auf einem Blatt
Raureif auf einem Blatt
Raueis
Raueis
Raueis Detail: Verzweigte Struktur erkennbar
Raueis Detail

Eiszapfen

Eiszapfen werden durch Wasser von oben gespeist. Die Dicke der Eiszapfen nimmt daher von oben nach unten ab.

Eiszapfen: abnehmende Dicke durch Wachstum an der Spitze
Eiszapfen: abnehmende Dicke durch Wachstum an der Spitze

Gerhart Wagner

Gerhart Wagner wäre zu Zeiten Newtons als Universalgelehrter bezeichnet worden. Während seines Berufslebens war er als Lehrer und Rektor aktiv, aber auch als Sektionschef im Gesundheitsamt und als Assistenzprofessor an der Universität Zürich. Nach seiner Pensionierung widmete er sich verschiedenen wissenschaftlichen Themen und wurde 1996 zum Ehren-Doktor der Universität Bern ernannt. 2020 erlebte er seinen 100. Geburtstag.

Unter anderem erregt auch Haareis das wissenschaftliche Interesse von G. Wagner. Zusammen mit C. Mätzler unternahm er Versuche zur Bedeutung von Pilzen bei der Haareisbildung. Diese Versuche wurden später unter Leitung von D. Hofmann weitergeführt.


Quellen (Auszug) und Links

D. Hofmann, G. Preuss, C. Mätzler: Evidence for biological shaping of hair ice. Biogeosciences, 12, 4261–4273, 2015. doi:10.5194/bg-12-4261-2015

G. Wagner, Christian Mätzler: Haareis auf morschem Laubholz als biophysikalisches Phänomen. Forschungsbericht Nr. 2008-05-MW, Universität Bern, Institut für Angewandte Physik, Abteilung Mikrowellenphysik; 22. August 2008

Seite von G. Wagner mit verschiedenen Veröffentlichungen

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