Halbwahrheiten, Fake News, Verschwörungstheorien: Unseriöse Meldungen, die sich im Internet in Windeseile verbreiten, tragen zu einer fehlerhaften Meinungsbildung bei und gefährden Entscheidungsprozesse.
Auf die Verlinkung von Negativbeispielen wurde bewusst verzichtet / Erstveröffentlichung 12.04.2020
Spätestens in der Corona-Krise dürfte jedem klar geworden sein: Das Internet ist nicht nur ein Segen.
Theoretisch hat jeder Zugang zu einer Vielzahl an Informationen.
Ungefilterte Information für Alle: das scheint sehr demokratisch zu sein.
Die freie Verbreitung von Information hat aber auch Nachteile, die eben jene Demokratie schwächen (können).

Guter Journalismus
Gute journalistische Beiträge sollten einige wesentliche Anforderungen erfüllen:
Sie sollten die Wahrheit wiedergeben, gut recherchiert sein, neutral und sich widersprechende Ergebnisse oder Aussagen beleuchten. Nach Möglichkeit sollte der Leser in die Lage versetzt werden, sich aufgrund der (Hintergrund-) Informationen eine eigene Meinung zu bilden.
Speziell zur medizinischen Berichterstattung heißt es im Pressekodex Ziffer 14:
„Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“
Das (auch schon lange vor der digitalen Informationsflut) nicht alle journalistischen Beiträge diesen Anforderungen entsprachen, steht außer Frage.
Digitale Konkurrenz
Das Internet hat das Informationsmonopol der klassischen Medien durchbrochen: Es bietet zahlreiche frei zugängige und kostenlose Informationen an.
Bei den nicht originär journalistischen Websites (Blogs, Podcast, YouTube…) werden teilweise schlecht recherchierte Beiträge eingestellt, deren einziges Ziel es ist, Leser auf die Website zu ziehen. Auch hier gilt wie bei Personen des öffentlichen Lebens schon lange: schlechte Publicity ist besser als keine Publicity. Der Pressekodex ist häufig nicht bekannt und wird nicht eingehalten.
Damit wächst der Konkurrenzdruck für die (mehr oder weniger) seriösen Medien sowie der Anreiz Leser durch schnelle – sensationsheischende – Meldungen zu gewinnen. Alleine der Zeitdruck in Online-Redaktionen macht umfangreiche Recherche schwierig.
Viele klassischen Medien haben ihre Journalisten – auch Fachjournalisten – entlassen (müssen) – Stichwort: Medienkrise.
Freie Journalisten – die auch Fachjournalisten sein können – müssen sich oft dem allgemeinen Credo (Sensationen, schnelle Meldungen) beugen.
Anforderungen an Beiträge im Internet
Mit der Informationsflut hat sich die Gestaltung der Veröffentlichungen häufig an die Nutzeranforderungen angepasst. Für alle Internetbeiträge (egal ob Text, Video oder Podcast) gelten ähnliche Regeln, hier am Beispiel von Textbeiträgen dargestellt. Zusammengefasst lauten die Anforderungen: kurz, interessant, aktuell, einfach. Im Detail:
Texte müssen kurz sein, da lange Texte ungern Online (Smartphone, Tablet, PC) gelesen werden. Das bewirkt quasi zwangsläufig, dass wesentliche Zusatz- und Hintergrundinformationen entfallen müssen.
Texte müssen das Interesse der Leser treffen. In dieser Zeit ist das meistgesuchte Thema „Corona“. Jeder Website-Betreiber der Zulauf auf seiner Seite haben will, versucht daher zum Thema Corona quasi auf „Teufel komm raus“ Texte zu produzieren. Da diese Texte aber wenig Interesse finden, wenn sie die offiziellen Aussagen widerspiegeln, gibt es Webseiten, die auf Biegen und Brechen konträre Meinungen veröffentlichen. Die Recherche zu den Texten ist häufig mehr als schlecht oder definitiv nicht vorhanden.
Texte müssen leicht verständlich sein. Ein schwieriges Thema einfach darzustellen, setzt voraus, dass man sich mit der Materie intensiv beschäftigt und die Zusammenhänge verstanden hat. Nur dann kann man in kurzen Texten wichtige Aspekte darstellen und unwichtige Aspekte weglassen. Werden jedoch von fachfremden Einzelpersonen „fachliche“ Texte zu einem Thema im Dauerfeuer veröffentlicht und ggf. unter verschiedenen fachlichen Aspekten beleuchtet (Virologie, Medizin, Pandemie, Wirtschaft, Politik…) bleiben notgedrungen die Recherche und die Einarbeitung ins Thema auf der Strecke.
Aufmerksamkeit um jeden Preis
Meldungen, die sich vom Mainstream abheben, sorgen für Aufmerksamkeit und sind schneller verfasst, als Texte mit aufwendigen Recherchen.
Die Vorteile schneller Texte außerhalb des Mainstreams liegen also auf der Hand:
- Konträre Meinungen locken Seitenbesucher an.
- Durch viele Besucher steigt die Website im Ranking.
- Der Zulauf, den die Website hat, steigert den Wert in der Aufmerksamkeitsökonomie der Internetzeit.
- Je weiter vorne die Website in den Suchergebnissen ist, desto besser lassen sich Werbeeinnahme erzielen.
- Webseiten, die in den vorderen Suchergebnissen angezeigt werden, werden von den Nutzern als seriös und vertrauenswürdig eingestuft. Wodurch wiederum der Zulauf gesteigert wird.
Unter Aufmerksamkeitsökonomie wird die Konkurrenz um Aufmerksamkeit verstanden. Triebfedern können sowohl finanzielle Gründen als auch persönliche Gründe (etwa Selbstdarstellung) oder beides sein.
Albrecht Ude schreibt in „Fact Checking gegen „Fake News“: „Die Ente bleibt draußen!““
„Fake News bringen unglaublich viel Geld, sie sind ein ganz normales, reichweitengetriebenes, werbefinanziertes Geschäftsmodell. Sie sind digitaler Kapitalismus, oft als „Aufmerksamkeitsökönomie“ bezeichnet. ….
Sollte man diese Jugendlichen verurteilen? Wofür? Dafür, dass sie verstanden haben, wie die Wirtschaft heute funktioniert? Und dass nicht der Wahrheitsgehalt Geld bringt, sondern die Menge der Klicks?“
Wahr ist, was oft wiederholt wird
Glaubwürdig ist, was oft wiederholt wird. Ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht – das immer wieder Gelesene bleibt hängen und wird zur angenommenen Wahrheit.
Stephan Russ-Mohl (siehe „Hilfreiche Literatur“) schrieb hierzu bereits 2017:
„Die Lügen treffen auf ein Publikum, „für das der Klick auf „gefällt mir“ eine größere Bedeutung hat als Faktentreue und Plausibilität.“ ….
Neu ist „die blitzartige Verbreitung, wenn eine Meldung viral geht“, so NZZ-Autorin Sieglinde Geisel (2017), und die „Unverfrorenheit, mit der die Realität geleugnet wird.
Letztendlich ist es indes schlicht unglaublich, was für hanebüchenen Unfug viele Leute für wahr halten“.
Diese Aussagen sind heute aktueller denn je.
Was viele im Internet vergessen: Suchmaschinen, Facebook und Co. liefern maßgeschneiderte Ergebnisse. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass nur Internet-Seiten angezeigt werden, die der eigenen Meinung entsprechen, steigt. Man wird somit immer mehr in seiner Meinung bestärkt, der objektive Blick geht zunehmend verloren.
Mit den Algorithmen der Suchmaschinen und den Informationen, die soziale Netzwerke über uns sammeln, um uns mit den passenden Informationen zu beglücken, gehen also deutliche Risiken einher.
Der informierte Leser
Die Nutzung des Internets zur Informationsbeschaffung setzt Medienkompetenz voraus, also das Können, Informationen zu hinterfragen, zu bewerten, zu differenzieren und einzuordnen.
Fachliche Themen zu beurteilen ist naturgemäß für Laien schwierig.
Oft lohnt sich ein Blick ins Impressum und ggf. eine Recherche, wer tatsächlich dahintersteckt.
Wenn z. B. eine deutsche Website sich als Putin-nahe herausstellt und diese Seite Kritik an der derzeitigen Corona-Politik der Bundes-Regierung übt, ist kaum davon auszugehen, dass neutrale Informationen geliefert werden.
Hinter manchen Blogs, die sich als private Blogs tarnen, stellt sich beim näheren Hinsehen heraus, dass diese eigentlich an ein Unternehmen angebunden sind. Die Aufmerksamkeit, die die Beiträge erhalten, lassen die Website in den Suchergebnissen weiter nach vorne rutscht und gaukeln damit Seriosität vor. Die auf den Seiten vorhandene Werbung wird besser verbreitet. Also letztendlich stecken massive finanzielle Interessen dahinter.
Manche Inhalte lassen sich schnell mit etwas gesundem Menschenverstand als pure Meinungsmache identifizieren. Wird z. B. die Luftqualität als Hauptursache für eine Häufung kritischer Corona-Verläufe genannt und als „Beweis“ die Luftschadstoff-Konzentrationen von Italien und Wuhan angeführt, fehlt ein ganz entscheidender Aspekt: Es müssen andere Regionen mit ähnlichen Schadstoffkonzentrationen in die Beurteilung einfließen. Fehlt dies, ist die Behauptung nicht mehr als eine Hypothese.
Hierzu noch einmal der Verweis auf den Pressekodex:
„Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“
Genau dies passiert derzeit aber bei vielen halbseidenen Internetauftritten.
Häufig werden keine ausgiebigen Recherchen durchgeführt, die Berichte sind einseitig und ohne Abwägung verschiedener Meinungen. Manche Autoren verzichten auch ganz auf Fakten oder ignorieren vorhandene Fakten vollständig. Dabei können auch Fachleute eine Situation falsch einschätzen oder gezielt Falschinformationen verbreiten. Ein guter Beitrag bezüglich AIDS-Leugnern bietet ein Wikipedia-Artikel.
Ein weiteres aktuelles Beispiel hat der Postillon in einer Satire verarbeitet: „Wodarg: „Zehntausende Menschen sterben in überfüllten Kliniken, weil sie nicht verstehen, dass das Coronavirus völlig harmlos ist““
Manche Artikel fallen alleine schon durch ihre meinungsbildende Sprache auf. Beispiele aus einem YouTube-Video:
„Angst-Medien-Nebel, manipulierte Medien [ohne das der Autor Beweise liefert], Skeptikern – …..… stopfe ich den Mund, Spezi-Virologen [in Bezug auf einen renommierten Virologen]“.
Dass solche Veröffentlichungen vorwiegend andere Interessen als neutrale fachliche Information haben, dürfte klar sein.
Fazit
Das Überangebot an frei zugänglichen Informationen kann nicht nur zu einer besseren Information der Bürger führen, sondern auch zur Verbreitung von Falsch-Informationen.
Auch kostenlose Informationen unterliegen dem Wettbewerb und können auf finanziellen Interessen beruhen.
Werden auf Basis von Falsch-Informationen politische Entscheidungen erzwungen, führt das zu Fehlentscheidungen (in Abwandlung eines Zitates: „Demokratie der Dummen“).
Der Umgang mit den frei verfügbaren Informationen setzt voraus, dass diese Informationen fachlich richtig eingeordnet werden können. Dies ist für Laien nahezu unmöglich. Oft ist nur die Einstufung über die mehr oder weniger deutliche Absicht des Autors möglich.
Hilfreiche Literatur
Medien
- Stephan Russ-Mohl: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde – Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet
- Patrick Gensing: Fakten gegen Fake News
- Hannah Fry: Hello World – was Algorithmen können
- Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint“
- Harald Gapski / Monika Oberle / Walter Staufer (Hrsg.): Medienkompetenz (download )
- Spiel „Bad News – Von der Falschmeldung zum Chaos! Wie böse bist du? Dein Ziel: Follower gewinnen.“ Risiken der Aufmerksamkeitsökonomie.
Thema Seuchen / Pandemie
- Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber – Verlauf und Nachwirkungen der Spanischen Grippe
- Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 20–21/2015): Seuchen
- Sowie die einschlägigen Seiten zu Corona der Johns Hopkins Universität, der WHO, des RKI, des Bundesgesundheitsministeriums etc. und nicht zu vergessen: viele gut recherchierte kommerziellen und privaten Blogs und Beiträge.
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